Anime Review: Kokuriko-Zaka kara
Letzte Woche sah ich den neusten Studio Ghibli-Film im Kino, Kokuriko-Zaka kara (internationaler Titel: “From up on Poppy Hill”). Regie führt Hayao Miyazakis Sohn, Goro Miyazaki. Die Vorstellung war für die späte Uhrzeit gut besucht, wenn auch nicht bis auf den letzten Platz besetzt.
Handlung:
Yokohama 1963, ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen in Tokyo: Die 16-jährige Oberschülerin Umi hisst jeden Morgen im Vorgarten der Kokuriko-Herberge ein paar Signalflaggen, um dem vorbeifahrenden Schiffsverkehr Glück auf hoher See zu wünschen. Sie tut dies sehr gewissenhaft seit sie ein kleines Kind ist. Ihr Vater ist während des Kriegs auf hoher See umgekommen. In der Herberge Kokuriko lebt Umi zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern, einer Tante, der Grossmutter mütterlicherseits und mit einer jungen Künstlerin. Die Mutter ist Uni-Professorin und hält sich zu Studienzecken gerade in den USA auf. Wenn Umi nicht in der Schule ist, bekocht sie als älteste der drei Geschwister die ganze Familie.
In der Schule lernt Umi den 17-jährigen Shun näher kennen. Shun ist Chef des Literatur-Klubs und ein Frauenschwarm. Er springt eines Tages während der Mittagspause plötzlich vom Dach des Clubhauses “Quartier Latin” in den Pool hinunter, um für ewig in die Analen der Klubs als mutiger Romantiker einzugehen. Shun ist von Umi angetan und sieht jeden Morgen vom Boot seines Vaters aus Umis gehisste Signalflaggen. Er richtet im einem Newsbulletin eine kurze Nachricht an das “Mädchen, das jeden Morgen die Signalflaggen hisst”.
Umi und Shun verstehen sich auf Anhieb gut. Sie hilft ihm bei seinen Aktivitäten, das heruntergekommene Quartier Latin-Klubhaus vor dem Abriss durch die Schuldirektion zu retten. Alle männlichen Mitglieder des Literatur-, Philosophie, Mathe- und Astronomie-Klubs machen sich ans grosse Aufräumen. Sie werden dabei von vielen Schülerinnen unterstützt, die ebenfalls das Quartier Latin erhalten wollen. Doch als Umi Shun eines Tages das Foto ihres Vaters zeigt, wirkt dieser plötzlich nachdenklich und beginnt sich von ihr allmählich zu distanzieren …
Meinung:
Ein schöner und unterhaltsamer Film, der ohne grossen Klischees auskommt und handwerklich gut gemacht ist. Kokuriko-Zaka kara (“vom Kokuriko Hügel aus”) fängt gekonnt das Nachkriegsambiente ein mit der Aufbruchsstimmung der frühen Sechziger-Jahre und den romantisch-/politisch angehauchten Idealen verklärter Schüler und Studenten.
Zunächst habe ich befürchtet, dass der Film diese Zeit der frühen Sechziger-Jahre allzu stark nostalgisch einfärben würde, aber dem ist zum Glück nicht wirklich so. Anstelle von etwa reinen Postkarten-Landschaften, die mit traurig-melancholischer Musik untermalt werden, wird ein Arbeiter-Vorort von Yokohama mit seinen Krämerläden und der starken Industrialisierung (Verkehr, Cheminés, ect.) gezeigt und mit einem leicht jazzig/bossa nova angehauchten Soundtrack engereichert, der nicht kitschig wirkt und einfach Lust auf mehr macht. Hier gefällt mir Kokuriko-Zaka kara mehr als der letzte Ghibli-Film, Arietty, (nicht, dass Arietty kitschig wäre, aber er konnte mich mit der konstant traurig-melancholischen Grundstimmung, der unter anderem durch die irisch angehauchten Musik und Hauptmelodie entsteht, einfach nicht 100% überzeugen).
Die Zeichentrick-Animation von Kokuriko-Zaka kara ist wie gewohnt für einen Film von Ghibli detailiert und handwerklich gekonnt ausgefallen. Der Film beinhaltet mehrere Szenen mit beeindruckender Charakter-Animation: Man sieht zum Beispiel, wie Umi einen Gasherd mit einem Streichholz anzündet, sie sich die Haare zurechtmacht, wie im Klubhaus die Schülerinnen sich ans Putzen machen, und so weiter. Man merkt es auch diesem Ghibli-Film an, dass sehr viel Wert auf überzeugende Charakter-Animation gelegt wurde. Die Hintergründe wiederum haben die für Ghibli gewohnte, quasi fotorealistische Qualität, in der es auch nach mehrmaligem Schauen immer noch neue Details zu entdecken gibt. Dabei überzeugt besonders das Klubhaus der Studenten, das wohl vom Studio-Ghibli Museum mit seinen farbigen Fenstern inspiriert sein dürfte und von innen aussieht wie eine Mischung aus altem Bazar und Messie-Wohnung auf fünf Stockwerken verteilt.
Die Handlung ist interessant und nicht wirklich vorhersehbar. Die Hauptfiguren sind alle tiefgründig genug charakterisiert und überzeugen durch ihren Charme, allen voran Umi, die sich gewissenhaft für das Wohl der ganzen Familie einsetzt und Shun, der sich idealistisch und unbeirrbar für gewisse Prinzipien einsetzt. Aber auch die Nebencharaktere überzeugen: Da gibt es z.B. den einen bebrillten Schüler im Schulrat, ähnlich wie Kitamura in Toradora, nur ernster, der Shun und Umi tatkräftig bei der Erhaltung des Quartier Latins zur Seite steht und sonst brisante Infos aus oberster Stelle an alle Schüler weitergibt. Oder es gibt den obligatorischen Comic Relief: Der verschrobene Chef des Philosophie-Klubs und ein paar weitere Nebenfiguren, die mit Herzblut bei der Sache ihres jeweiligen Klubs dabei sind und ein wenig an angefressene Otakus erinnern, die bei ihrem Hobby völlig aufgehen und alles rund um sie herum vergessen.
Der ganze Film zeigt viele Studenten, die sich für eine gemeinsame Sache einsetzen, voller Tatendrang sind und nach vorne gerichtet in die Zukunft blicken. Dieser Idealismus ist eines der Hauptthemen des Films. Das gewählte Jahr 1963 – ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Tokyo – hat da seinen Grund. Altes wird abgerissen und ersetzt durch Neues und Fortschrittliches. Der Film spannt eine Brücke zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, indem die Hauptprotagonisten das alte Klubhaus restaurieren, für es kämpfen und gleichzeitig auch über ihre eigene Herkunft sich Gedanken machen.
Wenn etwas im Film etwas “nostalgisch” eingefärbt ist, dann sind das die männlichen Schüler mit ihren linksgerichteten Debattier-Aktivitäten und das ganze Klubhaus, da für die Schüler eine Art Freiraum ist, wo sie sich gesellschaftlichen Zwängen ein wenig entziehen können. Man kann sich die Frage stellen, ob Goro Miyazaki hier ein wenig die Jugend seines Vaters beleuchtet, der bekanntlich in den frühen Sechziger-Jahren als Linksaktivist und später Führer der jungen Angestellten von Toei-Animation an voderster Front bei den Studentenunruhen mit beteiligt war.
Offizieller Trailer:
http://www.youtube.com/watch?v=1KIlbfjOHiE&feature=player_detailpage
Hoffen wir mal es geht nicht zu lange bis der Film irgendwo in der Nähe der Schweiz anläuft. Gemunkelt wurde mal 2012 aber ich hoffe doch, dass es etwas schneller geht, sonst überholt wieder die japanische DVD/BluRay den europäischen Kinostart. Vielleicht läuft er ja in Annecy im nächsten Sommer…
Aaron Gerow hat in seinem Blog noch einen interessanten Punkt angesprochen:
http://www.aarongerow.com/news/review-ghiblis-from-up-on-p.html
Besonders, dass die starke amerikanische Präsenz im Hafen von Yokohama im Film komplett ausgeblendet und die damit verbundenen Konflikte nur in Details angedeutet werden.
Ich denke, die Abwesenheit der Amerikaner hat einen guten Grund. Die Aussage des Films soll wahrscheinlich eine für Idealismus sein, dafür, den eigenen Weg zu gehen. Auch Sympathien für alternative Kultur werden gezeigt, und dass Protest gegen das Establishment eine gute Sache sein kann. In der Summe ist es eine Aussage für etwas, nämlich das Quartier Latin, das stellvertretend für diese Dinge steht.
Nimmt man jetzt die Amerikaner dazu, würden sie und der Streit um ihre Präsenz in Yokohama den Film dominieren, und die Aussage des Films würde sehr leicht auf Anti-Amerikanismus verkürzt werden.
Die meisten Geschichten, die in der Vergangenheit spielen, ändern wichtige Details, um die gewünschte Aussage zu erhalten. Würde man dokumentarische Korrektheit fordern, gingen eine Menge Geschichten einfach verloren. Also entscheidet man sich lieber dafür, die Änderungen zu tolerieren, wenn es sich nicht um unverschämte Geschichtsfälschung handelt (und ich denke, eine Fälschung dieser Art ist hier nicht gegeben).
(PS: Allerdings würden auch andere Geschichten neu entstehen, weil Menschen nun mal neugierig sind, auch wenn die dokumentarische Vergangenheit nicht so nett ist wie die idealisierte.)
@Adrian
Aaron Gerows Ansicht ist interessant. Er spricht einige Punkte an, die ich so entweder nicht bemerkt habe (das Fehlen jeglicher amerikanischer Präsenz bzw. “Präsenz” durch Absenz; Ich dachte, das sei normal, weil die amerikanische Besetzung der Nachkriegszeit nur bis 1952 dauerte), oder bei denen ich ihm insgeheim zustimme, mich aber zunächst nicht getraut habe, es hier zu erwähnen. Das hole ich nun kurz nach. Danke für den Hinweis.
Zuerst einmal habe ich mich in einem Punkt offenbar geirrt: Umis Vater ist nicht während des zweiten Weltkriegs auf hoher See gestorben, sondern ein paar Jahre später während des Korea-Kriegs. Das war ein Punkt, den ich im Film nicht genau verstanden hatte und der mich auch ein wenig stutzig werden liess, weil sie nicht mit dem gegenwärtigen Alter der Protagonistin Umi zusammenpasste (sie ist im Jahr 1963 sechzehn, das Ende des zweiten Weltkriegs war 1945. Wie ist es dann möglich, dass Umi sich noch klar an ihren Vater erinnert und in einer Rückblende bereits damals die Flaggen hisste? Das geht zeitlich nicht auf, sie war damals ja noch gar nicht geboren). Jetzt ist mir alles klar.
Aaron Gerow geht mit einer ideologiekritischen Lesart an den Film heran und moniert am Film ein wenig, dass er wie ein Jugendfilm von Nikkatsu aus den frühen Sechziger-Jahren daherkäme. Obschon ich kein Kenner auf dem Gebiet alter japanischen Jugendfilme bin, verstehe ich seine Ansicht ein wenig. Eigentlich sieht er Kokuriko-Zaka kara mehr als eine Art Simulacrum, also als eine Art Abbild jener Zeit als eine korrekte Dokumentation. Ich stimme ihm da insofern zu, dass es einen bewussten Grund gab, den Stoff als Animationsfilm zu verarbeiten, anstelle daraus einen Realfilm zu drehen. Die Technik des Animationsfilms erlaubt es den Zuschauern, das Gezeigte stärker ohne Widersprüche zu akzeptieren, als dies ein Realfilm oft tun kann. Als Zuschauer ist man sich bei einem Animationsfilm immer bewusst, dass das Gezeigte keinen direkten Bezug zum realen “nach Aussen” hat und dass es der Phantasie entspringt. Dadurch lassen sich historische Ungereimtheiten leichter umgehen und eine Handlung auch nachfühlbarer idealisieren. Im Fall von Populärkultur wie Anime im Allgemeinen entspringt das Gezeigte nun einer kollektiven Phantasie realer Wirklichkeit. Man darf annehmen, dass der heutige Durchschnittsjapaner die Zeit der frühen Sechzigerjahre nun durchaus nostalgisch sieht und dabei das Unangenehme aus jeder Zeit eher verdrängt.
Vielleicht hätte ich im Review auch besser schreiben sollen, dass der Film durchaus nostalgisch gefärbt ist – denn das ist er sicherlich, dafür bürgt bereits das Faible für alten technologischen Schnickschnack im Hintergrund ohne Handlungsrelevanz wie ein öffentliches Münztelefon mit Wählscheibe, Mini Schwarzweiss-Fernseher, Matritzendrucker für das Newsbulletin, ect. -, er aber im Vergleich mit der sonstigen Tendenz von Studio-Ghibli im Allgemeinen nicht allzu stark auf Nostalgie setzt in dem Sinne, dass jeder Japaner in dieser Vergangenheit seine Wurzeln hätte und es auch darum gelte, diese Vergangenheit für zukünftige Generationen zu bewahren. Ich denke da zum Beispiel an Isao Takahatas Pom Poko, aber auch Totoro und Prinzessin Mononoke.
Sollte ich den Film in den nächsten Wochen noch einmal im Kino schauen gehen, werde ich ihn etwas ideologiekritischer lesen. Nicht, um den Film etwa im Nachhinein schlechter zu machen als ich ihn jetzt vorgestellt habe, denn das ist er nicht und es handelt sich dabei ja um meinen Ersteindruck, sondern um neue Erkenntnisse zu gewinnen, wie man ihn verstehen kann und was er zwischen den Zeilen vermittelt.