Locarno Filmfestival 09: Rückblick auf Manga Impact
Im August war ich am 62. Filmfestival in Locarno. Das Festival hatte dieses Jahr etwas ganz Spezielles angeboten, um auch ein jüngeres Publikum anzuziehen und gegenüber der Konkurrenz eigene Akzente zu setzen: Unter dem irreführenden Namen “Manga Impact” wurden vom 5.-15. August in der Schweizer Stadt im südlichen Tessin gleich 200 Animes auf Grossleinwand gezeigt, manche im Freien auf der Piazza Grande mit ihren 8000 Sitzplätzen. Das “Manga Impact”-Programm markierte auch den Beginn einer Anime/Manga-Ausstellung, die vom 16.September 2009- bis 10.Januar 2010 im nationalen Filmmuseum in Turin gehalten wird.
Gezeigt wurde in diesen zehn Tagen ein äusserst abwechslungsreiches Programm an TV-Serien, OAVs und Langspielfilmen. Als Animefan lief einem dabei das Wasser im Mund zusammen. Seien es rare schwarzweiss Cartoons aus der Vorkriegszeit, die neuesten Produktionen aus dem Hause Production I.G oder Kultfilme wie Akira, Patlabor 2 oder Galaxy Express 999; das alles gab es in diesen zehn Tagen zu sehen. Mit dem Film Redline lief auch noch eine Weltpremiere auf der Piazza Grande. Doch nicht nur das: Am Anfang des Festivals war auch Studio Ghibli-Mitgründer Isao Takahata anwesend und wurde gleich mit einem Ehrenleopard für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Zudem verweilten noch die wichtigsten kreativen Köpfe vom Studio Gainax (u.a. Yoshiyuki Sadamoto und Hiroyuki Imaishi) für ein paar Tage in Locarno, und sie machten sich einen Spass daraus, sich bei Pressekonferenzen der Konkurrenz einzuschleichen und sie mit dummen Fragen in Verlegenheit zu bringen. Daneben gab es noch eine “Manga-Ausstellung” mit Original-Cels und Skizzen aus Evangelion, Gurren Lagann und One Piece.
Mit dem, was das Festival in Sachen Anime angeboten hat und wie die allgemeine Stimmung so gewesen ist, bin ich rundum zufrieden gewesen – Ausnahmen liste ich weiter unten auf. Das Wetter war im August perfekt, eigentlich sogar eine Spur zu heiss. Es ist erstaunlich, wie schwül das Klima im südliche Tessin werden kann und wie sehr man als Schweizer, der ans Sommerklima der Nordschweiz gewohnt ist, ins Schwitzen kommt.
Mit dem Hotel hatte ich viel Glück: Adrian von Nimmermehr konnte im allerletzten Moment noch ein Zimmer für 3 Personen finden; eines an bester Lage, nämlich gleich bei der Piazza Grande und auch keine Gehminute vom Kino Ex-Rex entfernt, wo ein Grossteil des “Manga Impact”-Programms lief.
Ich wusste gleich von Anfang an, dass ich hauptsächlich die Langspielfilme schauen gehen würde. TV-Serien wie Escaflowne oder Nadia auf Grossleinwand gucken ist zwar nett, ich sage da bei sich bietender Gelegenheit nicht nein, aber wenn die meistens nur mit italienischen Untertiteln ab DVD gezeigt werden und zur gleichen Zeit im grössten Kino des Festivals Grossproduktionen wie Summer Wars vom Regisseur von “Das Mädchen das durch die Zeit sprang” mit engl./franz. Untertitel laufen, war für mich und meine nicht Japanisch oder Italienisch sprechenden Kollegen der Fall schnell klar gewesen, was man eventuell besser schauen gehen sollte. Bei fast allen Langspielfilmen hatte sich der Eintritt schlussendlich wirklich gelohnt. Auch die schlechteren Sachen konnte ich dank einer Festival-Akkreditierung gut verschmerzen.
Hier eine Auflistung über alle von mir gesehenen Filme:
Mittwoch 12.08:
16:15 Summer Wars (2009)
18:30 The Sky Crawlers (2008)
23:30 Cleopatra: Queen of Sex (1970)
Donnerstag 13.08:
10:00-14:00 Master Class with Katsuhito Ishii (Redline)
16:30 Patlabor 2 – The Movie (1993)
18:30 Musashi: The Dream of the last Samurai (2009)
21:00 Akira (1988)
Freitag 14.08:
11:00 Hells Angels (2008)
16:30 Galaxy Express 999 (1979)
19:00 Perfect Blue (1998)
21:00 Mind Game (2004)
23:30 Redline (Weltpremiere, im Freien auf der Piazza Grande) (2009)
Patlabor 2, Akira, Galaxy Express 999, Perfect Blue und Mind Game: Alle diese Filme kannte ich bereits schon, aber es ist ein spezielles Erlebnis, sie bei einem Festival im Kino sehen zu können. Besonders Akira ist mit seiner eindrücklichen Animation auf Grossleinwand schlicht eine Klasse für sich, die Musik der Geinoh Yamashirogumi-Gruppe war sehr laut und mitreissend. Jetzt zu den neuen Filmen:
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Summer Wars (Madhouse, 2009)
Summer Wars, der neueste Film von Mamoru Hosoda (Das Mädchen, das durch die Zeit sprang) war im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden. Es handelt sich hier um einen fast perfekten Animefilm für die ganze Familie mit viel Action, Humor und einer Prise Drama.
Kenji, ein Gymnasiast, arbeitet in seiner Freizeit für den Unterhalt von Oz, einer virtuellen Stadt, von der viele Menschen im Alltag abhängen. Als Natsuki, seine Klassenkameradin, in das er heimlich verliebt ist, ihm vorschlägt, für ein paar Tage aufs Land zu einem Familienfest zu fahren, zögert er nicht, das Angebot anzunehmen. Natsuki möchte, dass Kenji ihren Verlobten spielt, um ihre Grossmutter eine Freude zu machen. Eines Nachts erhält Kenji auf seinem Handy eine merkwürdige Nachricht, die aus lauter Zahlen besteht und in der er aufgefordert wird, das Rätsel zu entziffern. Im Halbschlaf macht sich das Mathegenie Kenji daran, das Rätsel zu knacken und die Nachricht zu senden. Am nächsten morgen erfährt er in den Nachrichten, dass sein Avatar in der virtuellen Welt Oz Unheil anrichtet und er von den Behörden gesucht wird. Nun muss Kenji auf die Hilfe seiner neuen “Schwiegereltern” zählen, die über viel Ressourcen verfügen…
Wem Das Mädchen, das durch die Zeit sprang gefallen hat, der dürfte auch den neuesten Streifen von Mamoru Hosoda ins Herz schliessen. Ich fand ihn persönlich nicht ganz so spritzig wie Tokikage Shoujo, was wohl an der übergrossen Anzahl Figuren lag und an den actionreichen Szenen im Cyberspace gegen den Schluss hin, die mich persönlich etwas stark an Digimon und, bei einer ganz bestimmten Verwandlungsszene, gar an Sailormoon erinnert hatten. Das ist nicht verwunderlich, denn Mamoru Hosoda ist schliesslich auch der Regisseur der Digimon-Filme. Nichtsdesto trotz ist Summer Wars ein wirklich gut gemachter und unterhaltsamer Film, den man auf keinen Fall verpassen sollte. Er lief im FEVI, dem grössten Kinosaal des Festivals, und war als Wettbewerbsfilm am Mittwoch abend auch recht gut besucht.
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The Sky Crawlers (Production I.G., 2008)
Okay, das war also Mamoru Oshiis letzter Langspielfilm. Die Geschichte eines jungen Piloten, der nicht altert und mit anderen nicht alternden Piloten in einem endlosen, fiktiven Luftkrieg zwischen zwei Nationen verwickelt ist. Der Krieg wird, so dem Anschein nach, paradoxerweise nur deshalb ausgetragen, damit die Menschen beider Nationen sich in Frieden und Sicherheit fühlen können. Die Handlung ist sehr langsam erzählt und legt den Schwerpunkt auf die wortkargen Beziehungen zwischen den Hauptfiguren. Der Film lebt vor allem von der stimmungsvollen Atmosphäre, die durch poetisch anmutenden Luftkämpfen und der Musik von Kenji Kawaii getragen wird. Einmal mehr nimmt Oshii die unscharfen Grenzen zwischen Realität und Illusion/Traum/Simulation als Grundlage für den Handlungsablauf. Kein Film für Jedermann, weil teils recht anspruchsvoll und langwierig erzählt, aber durchaus sehenswert. [Eigentlich kann der Film als Kritik an der Anime-Industrie verstanden werden, aber das ist jetzt eine andere Geschichte.]
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Cleopatra: Queen of Sex (Mushi Productions, 1970)
Einer von drei Langspielfilmen aus den Mushi Studios von Manga und Anime-Gott Osamu Tezuka. Die Regie führte Eiichi Yamamoto. Cleopatra hat mich positiv überrascht. Es ist in erster Linie eine witzige Sex-Komödie, bei der die Animatoren ihrer Fantasie freien Lauf lassen konnten. Es gibt kunstvolle, surreale Sexszenen, aber auch viel Slapstick-Humor mit Anspielungen auf andere bekannte Manga- und Animefiguren. Hinzu kommen noch durchgeknallte, notgeile Charaktere und als musikalische Untermalung viel heroische Trompeten-Musik im Stil von Ben Hur plus eine Sixties-Schnulze, die zwischendurch für melodramatische Stimmung sorgt. Die Handlung dreht sich um drei Weltraumreisende, die sich ins alte Ägypten beamen lassen um herauszufinden, ob die junge Cleopatra wirklich die legendäre Geliebte war. Wir erleben dann, wie Cleopatra von einer alten hässlichen Beraterin dazu ermuntert wird, Cäsar mit ihren Reizen zu verführen und dann zu ermorden, damit Ägypten vom römischen Reich befreit wird. Wie gesagt, der Film ist stellenweise eine wirklich gelungene Burleske der Sixties-Gegenwartsgeschichte. Das anwesende Publikum hat herzhaft gelacht.
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Musashi: The Dream of the last Samurai (Production I.G., 2009)
Anders als die Trailer vermuten lassen, handelt es sich bei diesem Film – basierend auf einem Skript von Mamoru Oshii – nicht etwa um einen spannenden Samurai-Anime, sondern in erster Linie um einen Dokumentarfilm über das Leben und die Philosophie von Musashi, wo ein nerviger Chibi-Professor in CGI und seine Gehilfin uns Zuschauern erklären, was hinter der Legende von Musashi wirklich steckt. Die Idee eines Anime-Dokumentarfilms ist nicht schlecht, und der Film ist mit seinen Aussagen stellenweise recht provozierend, aber er kommt wegen den vielen 3D-CGI Szenen mit seinen nervenden Chibi-Figuren schlicht zu kindisch rüber. Kommt noch hinzu, dass die Erklärungen einfach zu schnell waren. Viele Zuschauer waren schlicht überfodert und verliessen schon bald den Saal. Mir ist schleierhaft, wieso Musashi im Wettbewerb um den goldenen Leoparden war: Gegen die guten Realfilme hatte er schlicht keine Chance.
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Hells Angels (Madhouse, 2008)
Ach herjee, hier wurde das Potential für einen lustigen und innovativen Fantasy-Anime einfach im Klo runtergespühlt. Hells Angel basiert auf einem Manga von Shinichi Hiromoto und erzählt die Geschichte einer naiven und herzensguten Schülerin [Name vergessen], die auf dem Weg zur Schule eine bizarre Katze rettet und dabei vom einem Lastwagen überfahren wird. Sie stirbt dabei, merkt es aber zuerst nicht und stellt dann in ihrer Schule fest, dass alle Mitschüler dämomenhafte Kreaturen sind und der Schulleiter ein Dämon namens “Hellvis” ist. Die Schülerin will unbedingt nach Hause zu ihrer Mutter zurück, was ihr aber verwehrt wird, weil Tote nunmal in “Destinyworld” bleiben. Mit der Zeit freundet sich die Schülerin mit den anderen Schülern bzw. Dämonen an, es gibt einen Volleyball-Match of Hell und eine überlange Rachegeschichte zu Kain und Abel, usw.
Dabei fängt der Film gar nicht mal übel an. Die erste Stunde des durchgeknallten Action Fantasy-Films war graphisch sehr interessant anzusehen: Alle Charaktere, insbesondere die Heldin, sind einerseits sehr schlank gezeichnet, mit ausgeprägten Körperformen, und andererseits sind die Umrisse sehr grob und skizzenhaft gehalten. Dieser spezielle Stil erinnerte mich gleich an Animes aus den frühen siebziger Jahren wie Tiger Mask. Dann ist der Film zunächst noch lustig mit viel Slapstick und Nonsens-Humor. Es werden viele Klischees aufgegriffen und gekonnt parodiert wie etwa der Bishounen-Junge als Class-Representative oder die obligatorischen fiese Klassenkameradinnen. Doch leider wird der Film nach dieser ersten halben Stunde immer ernster und kitschiger, und leider viiiiel zu lang. Man hätte den Film um mindestens eine Stunde kürzen müssen, damit er einigermassen erträglich wird.
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Redline (Madhouse, 2009)
Redline von Takeshi Koike ist visuell absolut superb und einer der actionreichsten Animes, die ich bisher gesehen habe. Die Handlung ist hier ziemlich unwichtig: Einmal in der fernen Zukunft gibt es die verrückten Redline-Rennen, bei denen Menschen und Aliens auf fremde Planeten mit ihren aufgemotzen Supermaschinen um Sieg und Knete fahren. Speedracer auf Krack. Der Held JP ist einer der besten Redline-Rennfahrer; ein sanfter Rocker mit einer Elvis-Frisur, der in Sonoshee verliebt ist, ebenfalls eine Redline-Fahrerin. Wohin das im Film dann hinausläuft, ist klar: Boy gets Girl, Boy gets Girl. Hinzu gesellt sich eine Rahmenhandlung, die sich einmal um den Kumpel von JP dreht, ein korrupter Mechaniker, der sich von der Mafia bestechen lässt, und ein andermal um einen tyrannischen Militärdiktator, der mit seiner Armee das Redline-Rennen auf seinem Heimatplaneten um jeden Preis verhindern möchte. Aber hey, die Handlung ist wie gesagt völlig schnurz. Es ist wie bei The Fast and the Furios: Hier geht es in erster Linie um die Bilder und Action, und davon verspricht Redline nicht zu wenig. Lustigerweise kommen die Szenen des Trailers im fertigen Film gar nicht vor, angeblich soll Redline erst in allerletzter Minute für die Weltpremiere in Locarno fertiggestellt worden sein, aber dank des Trailers kriegt einen guten Eindruck davon, wie der Film audiovisuell so ist: Es werden sehr knallige Farben verwendet, und die Designs sind wegen den vielen schwarzen Flächen – siehe auch Koikes World Record in Animatrix – sehr kontrastreich. Redline wirkt dadurch wie ein amerikanischer Superhelden-Comic von Stan Lee, dem Leben eingehaucht worden ist. Sehenswert, aber mit Vorbehalten.
Zu guter letzt kann ich noch einmal betonen, dass sich die drei Tage in Locarno für mich abolut gelohnt haben. Ich habe nicht nur tolle Filme an einem lebhaften Festival erlebt, sondern auch nette Personen wie den Anime-Experten Jonathan Clements kennengelernt. Ich wünschte, es gäbe nächstes Jahr auch wieder einen Anime-Schwerpunkt, aber das wird leider nicht der Fall sein.
Wahrscheinlich wollte man sie einfach in die Tradition der “Manga eiga” stellen, da Anime ja ein künstlerisch wertloses Medium sind.
Oder es ist eine Anspielung auf die gute alte “Manga-Film”-Zeit :)
das meinst du aber hoffentlich ironisch, fyl.
mainstream-filme sind künstlerisch wesentlich wertloser heutzutage…
red line klingt sehr nach einem must-see, das würde sich auch gut im kino lohnen. irgend ne idee wann er in die deutschschweiz kommt?
der rest hingegen macht mich nicht so an. summer wars und hells angel hätten locker auch ovas sein können. die werde ich mir beizeiten einmal im home cinema zu gemüte führen.
Verdammt, Summer wars hätte ich auf dem Rückflug in die Schweiz gucken können, ich war aber viel zu müde dafür. ^^’
@Seto
Keine Ahnung, wann Redline in die Deutschschweiz kommt. Zum jetztigen Zeitpunkt ist nicht einmal klar, wann der Film in die japanischen Kinos anlaufen soll.
Apropos Hell Girl: Ich bin mir nicht sicher, ob er in Japan bereits im Kino gelaufen ist. Bisher ist kein DVD- oder Blueray-Release bekannt, obschon der Film schon letztes Jahr fertiggestellt wurde.
@fyl
Ich fürchte, sie nahmen das Wort “Manga” einfach rein deshalb, weil es bekannter als “Anime” ist.
ich liebe cleopatra, würde ihn sogar etwas über belladonna stellen. tezukas einfluss dürfte bei ersterem auch noch weit größer gewesen sein, wird meist als zweiter regisseur geführt, wenn ich mich recht entsinne.
ich wünschte nur, der film würde endlich ein würdiges deutsches oder englisches release bekommen. die schrottige und gekürzte laser paradise DVD mit misslungener normwandlung, letterboxed-bild und asynchronen ton in den letzten minuten, will endlich ausgetauscht werden…